Ein schamanisches Erbe

Seit Jahrtausenden praktizieren die Menschen überall auf der Welt das zeremonielle Schwitzen um sich zu reinigen und um Heilung zu erfahren - auf körperlicher und seelischer Ebene. Aber auch um die Sinne zu öffnen und Zugang zu anderen Wahrnehmungsebenen zu erhalten, um Visionen zu empfangen oder als Initiationsritus um einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. In den verschiedenen Kulturen haben sich unterschiedliche Erscheinungsformen des rituellen Schwitzens entwickelt.
Die ältesten uns bekannten Formen des zeremoniellen Schwitzens sind vermutlich bei den nordeuropäischen Urvölkern zu finden. Steinzeitliche Funde bei den Lappen und Sami Skandinaviens bezeugen Kuhlen bzw. Gruben mit großen Feuerstellen, die sehr viel größer sind als die bekannten Funde von Herdstellen. Es wird angenommen, dass diese Stellen zum Erhitzen von Steinhaufen genutzt wurden (siehe weiter unten) und somit als Schwitz- bzw. Dampfbad dienten. Was in den kalten Regionen Nordskandinaviens auch nachvollziehbar erscheint. Ein Hinweis gibt das finnische Wort Sauna, es ist abgeleitet vom urfinnischen „Sakna" was aus dem Lappischen Sprachgebrauch stammt und dort eine Grube oder Unterschlupf für ein Schneehuhn bezeichnet. Noch heute praktizieren die indigenen Sami und Lappen zeremonielle Schwitzhütten, in denen sich die Schamanen auf Reisen in andere Welten begeben um z.B. mit Geistern zu kämpfen, welche die Heilung eines Patienten behindern. Auch bei den nordsibirischen Schamanen sind Schwitzhütten bekannt.
In der der Antike war das zeremonielle Schwitzen ein regelrechter Kult. Riesige Tempel wurden dafür errichtet. Wir wissen von der rituellen Nutzung heißer Wasserquellen bei den Griechen. Einer der bekanntesten antiken Orte war das Asklepieion auf der griechischen Insel Kos. Dieser besondere Ort ist dem altgriechischen Gott der Heilkunst Asklepios geweiht und war in der Antike die Pilgerstätte für Heilungssuchende.
Von den Römern wissen wir, dass sie Caldarien (heiße Dampfbäder) zur körperlichen und geistigen Reinigung genutzt haben. Diese Caldarien gab es im gesamten Römischen Reich. Die Römer entwickelten dabei eine ausgefeilte Technologie und eine meisterhafte architektonische Ästhetik, die den heutigen Wellnesstempeln in nichts nachsteht, ja sie zumeist weit übertrifft. Caldarien waren öffentlich, jeder Bürger Roms konnte sie nutzen. Einige römische Herrscher überwarfen sich finanziell bei der Errichtung neuer Caldarien derart, das sie damit die Staatskassen fast in den Ruin trieben.
Der türkische Hamam ist eine Weiterentwicklung des griechisch-römischen Bades. Der Hamam ist ein Dampfbad, welches traditionell aus Marmor besteht. Um einen Nabelstein in der Mitte des Raumes grenzt eine kreisrunde Liegefläche mit beheizten Marmorplatten. Ein Telektschi (Badewärter) sorgt dafür, dass der ganze Körper des Besuchers gerieben wird und alle Muskeln gereckt und gedrückt werden. Dabei setzt er sein gesamtes Körpergewicht ein. Er kniet auf der Brust oder dem Rücken, fährt mit dem Knöchel des Daumens über das Rückgrat oder zieht an allen Gliedern. Er bringt das Genick und das gesamte Skelett durch leichte Manipulationen zum Knacken und renkt es wieder ein. Nach dem Hamam fühlt man sich wie neugeboren und wie in einem neuen Körper.
Bei den Germanen gab es Badehäuser und Schwitzbäder. Aus dem Mittelalter kennen wir die Badestuben. Die Badekultur erlag jedoch den mittelalterlichen Seuchen. Heute erfreuen sich die Badestuben auf Mittelaltermärkten wieder großer Beliebtheit. Angeblich soll es auch Schwitzhütten bei den Germanen gegeben haben, die der Göttin Hel oder auch der Holda (Frau Holle) geweiht waren. Während der Zeremonien wurde noch unterstützend schweißtreibender Holundertee getrunken. Holunder ist die heilige Pflanze der Göttin Holda, worauf auch der Name der Pflanze zurückgeht. Der Körper wurde vor und nach dem Schwitzen mit speziellen Kräutermischungen eingerieben. Holunder und Beifuss waren sehr wahrscheinlich ein Hauptbestandteil. Die Wirkung der Kräuter konnte sich durch die geöffneten Poren entfalten. Auch sollen auf die glühenden Steine Bilsenkrautsamen geworfen worden sein. Durch die Freisetzung der psychoaktiven Wirkstoffe des Bilsenkrautes konnten unsere germanischen Vorfahren mit ihren Göttern und Geistern in Verbindung treten. Ähnliches wird auch von dem westasiatischen Reitervolk der Skythen erzählt. Sie sollen zum gleichen Zweck getrocknete Cannabisblüten verwendet haben. Auch die Kelten und Slaven kannten angeblich Schwitzhütten. Wer von wem abgeguckt hat und wer als erstes damit begann ist natürlich nicht mehr nachvollziehbar, auch nicht, ob sich die Schwitzhütten unabhängig voneinander im europäischen bzw. eurasischen Raum entwickelt haben. Außer bei den Sami fehlen uns bisher eindeutige archäologische Beweise in anderen Regionen.
Auch in Asien wird das zeremonielle Schwitzen seit über eintausend Jahren praktiziert. Die Tempelartigen Sentōs der Japaner entstanden bereits ab dem 7. Jahrhundert. Es waren Dampf- bzw. Schwitzbäder, Iwaburo (Steinbäder) oder Kamaburo (Ofenbäder) genannt. Es handelte sich um natürliche oder künstliche Felsenhöhlen oder um steinerne Gewölbe zu denen anfänglich nur Mönche Zutritt hatten. Heutzutage gehören die Sentōs in Japan ebenso zur Wellnesskultur wie die großen Saunathermen in unseren Breitengraden.
Bekannt ist auch die russische Banja. Sie ist aus Holz gebaut, manchmal mit einem „ersten Stock" im Inneren. Im Idealfall besteht die Banja aus drei Räumen: Dem Schwitzraum, einem Waschraum und einem Erholungsraum. Durch einen Holzofen werden Temperaturen von 80 bis 100°C erreicht. Typisch für das Banja-Ritual ist das Quästen, dabei wird der Körper mit Bündeln von eingeweichten Birkenzweigen abgeschlagen, was angenehm erfrischt und die Durchblutung fördert, es hat aber auch eine symbolische Bedeutung, denn die Birke, der nord-eurasische Schamanenbaum, steht für Geburt, Reinigung und neues Licht.
Die Finnische Blockhaussauna ist weitgehend bekannt. Weniger bekannt ist die traditionelle Form der finnischen Sauna, die Rauchsauna. Diese ähnelt im Aufbau sehr der indianischen Inipi Schwitzhütte (siehe weiter unten), bzw. der ihrer nordischen Vorfahren, den Lappen und Sami (siehe oben). Hier werden Holzscheite entzündet, die einen großen Steinhaufen umgeben. Über mehrere Stunden werden die Steine aufgeheizt, wobei sich der Rauch im Saunaraum ausbreitet. Wenn das Feuer erloschen ist, wird die Asche weggeräumt, der Rauch zieht durch eine Öffnung in der Decke ab, der Ruß wird von den Sitzbänken abgewischt. Dann erfolgt ein starker erster Aufguss ohne Saunagänger, durch den der restliche Rauch aus der Sauna „getrieben" wird. Danach kann die Sauna für mehrere Stunden benutzt werden. Die Steine heizen dabei den Saunaraum weiter auf und dienen als Steinhaufen für den Aufguss. Der Aufgussdampf breitet sich durch das große Steinvolumen im Raum aus und erhitzt ihn immer wieder von Neuem.
Auch in Mittelamerika und in Teilen Südamerikas wird das zeremonielle Schwitzen praktiziert. Das mexikanische Temascal (aztekisch: „Haus der heißen Steine"), wird auch als „Estufa" (spanisch: Backofen) bezeichnet und ist ein backofenartiger halbkugeliger Bau. Er dient der indigenen Bevölkerung zur Heilung, zum Kontakt mit Verstorbenen und für Reinigungsrituale. Temacalteci gilt als die aztekische Göttin der Schwitzbäder. Im Temascal finden hauptsächlich Reinigungs- und Wiedergeburts-Rituale statt. Das heißt, symbolisch gesehen kehren die Teilnehmer zurück in den Bauch von „Mutter Erde", um neugeboren hervorzukommen. Während des Rituals lassen die Teilnehmer Altes, Überflüssiges und Belastendes im Bauch von Mutter Erde zurück und schaffen dadurch Platz für Neues. Durch gemeinsame Gesänge werden nicht nur der Körper, der Geist und die Seele gereinigt, sondern es wird eine tiefe Verbundenheit untereinander und mit der umgebenden Schöpfung, der Mutter Natur (la Naturaleza) erlangt. Durch den ununterbrochen Klang der Schamanentrommel und der Rassel des Curandero (mexikanisch: Schamane) im Inneren des Temascal, sowie die fast unerträgliche Hitze, das Trinken von unterschiedlichen reinigenden Tees und durch das unermüdliche Auspeitschen des nackten Körpers mit Kräuterbündeln finden derart starke Empfindungen und Emotionen statt, das tatsächlich das Gefühl entsteht, dass der Körper real stirbt. Beim Verlassen des Temascal stellt sich dann die Empfindung des „neu geboren worden seins" ein.
„Bei den Rouquouyennes-Indianern in Südamerika wird der Patient oberhalb der (erhitzten) Steine in einer Hängematte gelagert. Diese Proceduren werden stets vollständig nackend vorgenommen. Unmittelbar aus dem Schwitzraume mit seiner oft wahrhaft erstickenden Luft stürzen sich die Indianer in das kalte Wasser des benachbarten Flusses. Im Principe sehr ähnlich ist eine Schwitzvorrichtung, wie sie die Narrinyeri in Süd-Australien bei rheumatischen Affectionen anwenden. „Sie zünden ein Feuer an und machen Steine heiss, wie zum Kochen. Dann machen sie ein Gestell aus Stangen und der Kranke wird darauf gesetzt. Unter das Gestell bringen sie einige der heissen Steine und giessen , nachdem sie den Kranken mit Wolldecken bis zum Kopf eingehüllt und die mit heissen Steinen bedeckte Stelle ebenso abgedeckt haben, Wasser auf die Steine und der Dampf steigt dann unter den Decken auf und hüllt den Körper des Patienten ein. Diese Behandlungsmethode ist oft sehr erfolgreich." (Zitat aus: Die Medizin der Naturvölker: Beiträge zur Urgeschichte der Medizin von Maximilian Bartels, 1893)
Die heute vielfach in unseren europäischen Breitengraden praktizierte Schwitzhütte wurde hauptsächlich durch die Ureinwohner Nordamerikas nach Europa gebracht. Die meisten heute angebotenen Schwitzhütten orientieren sich an ihren Traditionen. Am meisten bekannt ist die Schwitzhüttenzeremonie der Lakota. Bei den Lakota gehört die Schwitzhütte, Inipi, zu den Sieben Riten der Heiligen Pfeife. Die Schwitzhütte wird aus Weidenstäben oder Haselnussruten errichtet. Die Stäbe werden in vorbereitete Löcher gesteckt, in Bögen angeordnet und durch vier Ringe kuppelförmig miteinander verbunden. In der Mitte der Hütte wird ein Loch für die heißen Steine gegraben. Die ausgehobene Erde häuft man neben dem Eingang zu einem „Heiligen Hügel" auf. In der Lakota-Tradition befindet sich die Feuerstelle sechs Schritte entfernt und ist durch einen Weg mit der Hütte verbunden, die sog. Sonnenlinie. Das Feuer steht für die Sonne, die Hütte für die Erde, die durch die Sonne Energie erhält. Für ein Reinigungsritual werden bei den Lakota meist 32 und für ein Heilungsritual 64 Steine benutzt. Für die eigentliche Zeremonie wird das Gerüst mit Fellen oder Decken eingedeckt. Die Steine werden im Feuer zum Glühen gebracht und dann in vier aufeinanderfolgenden Runden in die Hütte gebracht. Mit jeder Runde werden es mehr Steine und die Hitze steigt innerhalb der Hütte. Durch Wasseraufgüsse wird die Temperatur weiter erhöht. Schwitzen und Beten sollen eine äußere und innere Reinigung und die Wiedervereinigung mit dem Geist bewirken, damit der Mensch neu geboren wird. Doch erst muss er dafür sterben. Natürlich nur symbolisch durch die "widrigen Umstände" innerhalb der Hütte. Die Schwitzhütte mit ihrer Kuppel gleicht nach der traditionellen Erklärung dem Bauch einer schwangeren Frau, die auf der Erde liegt. So kehren die Teilnehmer in den Bauch der Mutter und der Mutter Erde zurück und erleben durch die rituell aufgerufenen Energien eine Reinigung, Erneuerung und Neuschöpfung ihrer Lebensenergie. Im Allgemeinen sollen die Hütten während der Zeremonie nicht verlassen werden, da die Zeremonie mit einer Schwangerschaft verglichen wird und man während dieser ja auch nicht einfach den Mutterbauch verlassen kann.
Das zeremonielle Schwitzen kann als ein spirituelles Erbe der Menschheit betrachtet werden. Im Laufe der Zeit wurde es vor allem in der westlichen Gesellschaft so kultiviert, das der magische Aspekt verloren ging und durch einen materialistischen Körperkult ersetzt wurde. In indigenen Kulturen, die weitgehend unbeeinflusst sind von monotheistischen Religionssystemen, ist die Magie des zeremoniellen Schwitzens lebendig geblieben. Das Überleben, dieses schamanischen Wissens bis in die heutige Zeit, haben wir vor allem diesen schamanischen Kulturen zu verdanken. Über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg sind sie ihrem natürlichen Verhältnis zur Mutter Natur treu geblieben. Sie haben dafür hart gekämpft und große Opfer geben müssen. Auch das Verdrängen unseres heidnisch schamanischen Wissens durch das Christentum, hat viele Opfer gekostet. Es hat dennoch in unserer Kultur überlebt. So ist es möglich, sich heute wieder den Ursprüngen anzunähern und ein modernes magisch-schamanisches Bewusstsein zu entwickeln, dass sich wieder der Natur und ihren Phänomenen zuwendet. Durch die Bereitschaft des einzelnen Individuums, die kulturell bedingten materialistischen Grenzen zu überwinden, kann sich dem Individuum die grenzenlose Schönheit der Schöpfung wieder offenbaren.
© Marius E. Hannig
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